ÖGGG: Geriatrie soll als eigenständiges Fach anerkannt werden
Mehr als 1,8 Millionen Menschen in Österreich sind 65 Jahre alt oder älter [1]. Der geriatrische Handlungsbedarf steigt häufig ab diesem Alter. Die Mehrzahl der Patient:innen, die von geriatrischer Medizin profitieren, ist über 80 Jahre alt. Multimorbidität und Gebrechlichkeit sind typische Kennzeichen. Unter dem Kongresstitel „Geriatrie und Gerontologie – keine Frage des Alters!“ treffen sich zwischen 4. und 6. April 2024 Altersmediziner:innen und Gerontolog:innen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz in den historischen Räumlichkeiten der Universität Wien (Details zum Kongress: https://oeggg2024.univie.ac.at/programm/). „Altersgerechte medizinische Versorgung ist ein Grundrecht. Die Forderung danach steht im Zentrum, wenn es um Chancengerechtigkeit für alle Altersgruppen in Österreich geht. Wir wollen, dass die Geriatrie im Modell der integrierten Versorgung in allen Strukturen seitens des Bundes, der Länder und der Sozialversicherung mitgedacht wird. Als Expert:innen setzen wir dabei auf die Zusammenarbeit mit Fachleuten aus Medizin, Pflege, Physio- und Ergotherapie, Sozialarbeit, Logopädie, Psychologie, Diätologie bis hin zur Soziologie“, erklärten Kongresspräsidentin Univ.-Prof.in Dr.in Regina Roller-Wirnsberger (Graz), Univ.-Prof. Dr. Bernhard Iglseder (Salzburg), Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG), und Prof. Dr. Giovanni Maio, M.A. (Freiburg), heute bei einer gemeinsamen Pressekonferenz.
Iglseder und Roller-Wirnsberger zeigten sich in ihrer Forderung nach der Etablierung einer Fachärztin/ eines Facharztes für Geriatrie einig. „In den meisten europäischen Ländern ist die Geriatrie ein eigenständiges Fach oder ein Sonderfach der Inneren Medizin mit entsprechender Repräsentation an den Medizinischen Universitäten. In Österreich handelt es sich dabei lediglich um eine Spezialisierung unterschiedlicher Quellfächer. Zudem braucht es mehr Professuren.“
Altersspezifische Probleme beim Sehen, Hören, Gehen und der Ernährung
Probleme beim Sehen trotz Sehhilfe haben rund 13 Prozent der Frauen und Männer zwischen 60 und 74 Jahren, ab 75 Jahren liegt der Anteil gar bei 29 Prozent [2]. „Für die Betroffenen kann das mit Gleichgewichtsproblemen und einem höheren Sturzrisiko einhergehen“, so Iglseder. 9,2 Prozent der Frauen und Männer zwischen 60 und 74 Jahren haben trotz Hörhilfe Probleme beim Hören in ruhigen Räumen, ab 75 Jahren liegt der Anteil bei rund 29 Prozent. Der Anteil jener, die Probleme beim Erinnern und Konzentrieren haben, steigt von 14,9 Prozent bei den 60- bis 74-jährigen Frauen und Männern auf 42,5 Prozent bei der Altersgruppe ab 75 Jahren. Mehr als 45 Prozent der Frauen und Männer über 75 Jahren haben ohne Gehhilfe Probleme beim Gehen auf ebener Strecke, 49 Prozent beim Treppensteigen [2]. „Ergebnisse sowohl schlechteren Hörens als auch unsicheren Gehens sind vielfach sozialer Rückzug und Isolation“, veranschaulichte Iglseder den Zusammenhang. Ein typisches Problem geriatrischer Patient:innen ist auch Mangelernährung: „Mangelernährung führt im Krankenhaus zu einer signifikant höheren Verweildauer, zu mehr Komplikationen wie z. B. Infektionen und Wundheilungsstörungen, zu höheren Kosten und zu einer erhöhten Mortalität“, betonte Iglseder [3].
Prävention, ein solidarisches Umfeld und bedarfsgerechte stationäre Einrichtungen
„Die Akutgeriatrie und die Remobilisation sind österreichweit im Ausbau befindlich. Es gibt mittlerweile über 50 Standorte mit insgesamt etwa 2.200 Betten in fast allen Bundesländern. Auch die Struktur- und Qualitätskriterien sind festgelegt. Wir befinden uns also auf dem richtigen Weg. Und dennoch ist es oftmals schwierig für geriatrische Patient:innen und deren Angehörige, rasch eine adäquate medizinische Versorgung zu erhalten. Es wäre wichtig, dass akute Versorgungsstrukturen wie Erstaufnahmen oder Notfallambulanzen gleich zu Beginn Aspekte wie Funktionalität oder Gebrechlichkeit untersuchen“, so ÖGGG-Präsident Iglseder.
Die Geriatrie bietet eine umfassende medizinische Betreuung, die auf die spezifischen Bedürfnisse alter Menschen zugeschnitten ist. Auf Grund der häufig komplexen Problemkonstellationen bei dieser Patient:innengruppe nutzt die Geriatrie zusätzlich zu den klassischen ärztlichen Untersuchungsmethoden das so genannte „geriatrische Assessment“, um alterstypische Mehrfacherkrankungen, körperlich-funktionelle Defizite, aber auch mentale und psychische Probleme sowie das soziale Umfeld der Patient:innen abzubilden. Auf Grundlage dieser Ergebnisse wird die multiprofessionelle Therapie geplant und laufend evaluiert. Geriatrie-Teams arbeiten oft eng mit anderen Spezialdisziplinen zusammen, um eine nahtlose Versorgung zu gewährleisten. Diese Koordination ist besonders wichtig, wenn ältere Menschen mehrere medizinische Probleme haben und verschiedene Arten von Unterstützung benötigen. „Die Zusammenarbeit mit Entlassungsmanagement, Überleitungspflege und Sozialarbeit sichert die langfristige Entlassung in das gewohnte Umfeld und verhindert rasche Wiederaufnahmen“, stellte Roller-Wirnsberger klar.
„Aktuell ist auf Grund der Kapazitäten die Chance auf einen Platz in einer Akutgeriatrie oder Remobilisation nicht gerecht verteilt. Mobile Teams und Telemedizin können da und dort eine Option sein. Wir sollten uns aber fragen: Welche Zukunft wollen wir für die österreichische Bevölkerung? Soziale und gesundheitspolitische Unsicherheit, Ungerechtigkeit und Mehrklassenmedizin? Aus Sicht der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie sollten wir uns stattdessen zu einer adäquaten und gesicherten Versorgung für alle Altersgruppen bekennen und die notwendigen Voraussetzungen dafür etablieren“, unterstrich Roller-Wirnsberger. „Die Zahlen sagen uns: Die Mehrzahl der älteren Menschen in Österreich zählt nicht zu den fröhlichen ‚Best Agers‘ aus der Werbung. Für diese Mehrheit brauchen wir Investitionen in die Prävention sowie ein solidarisches und wertschätzendes soziales Umfeld, zum Beispiel im Sinne von so genannten ‚Caring Communities‘. Und wir brauchen auch in Zukunft stationäre Einrichtungen mit altersgerechter Medizin.“
Beziehungsarbeit und Komplexität in der Altersmedizin
In dieselbe Kerbe schlug Maio, der per Konferenzschaltung an der Pressekonferenz teilnahm: „Die Beziehungsarbeit ist eine elementare Voraussetzung für die Altersmedizin. Falsche ökonomische Anreize erschweren derzeit diese Beziehungsmedizin.“ Die Zukunft der Altersmedizin liege in der Anerkennung der Komplexität älterer Menschen und ihrer Bedürfnisse. „Die Menschen, die am meisten medizinische Versorgung benötigen, werden derzeit am ehesten vernachlässigt. Eine solche strukturelle Unterversorgung darf aber eine humane Gesellschaft nicht zulassen. Das Ziel der Altersmedizin besteht darin, alte Menschen gerade nicht weiter an den Rand zu drängen, sondern sie in die Mitte der Gesellschaft zu rücken“, so der Medizinethiker abschließend.
Quellen:
[1] STATISTIK AUSTRIA, Volkszählungen (1869-2001), Registerzählung (2011-2021), Statistik des Bevölkerungsstandes (2023-2024). Erstellt am 13.02.2024. – Vorläufige Ergebnisse für 2024, laut Website vom 18. März 2024: https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/bevoelkerung/bevoelkerungsstand/bevoelkerung-nach-alter/geschlecht
[2] STATISTIK AUSTRIA, Gesundheitsbefragung 2019. Erstellt am 14.07.2020. – Bevölkerung in Privathaushalten im Alter von 15 und mehr Jahren, laut Website vom 18. März 2024: https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/gesundheit/gesundheitszustand/gesundheitliche-beeintraechtigungen
[3] Drey, M., Kaiser, M.J., Dtsch Med Wochenschr 2011; 136(5): 176-178
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